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Briefgeheimnis

zuletzt bearbeitet am 04.06.2007

Ein furchtbares Geräusch am frühen Morgen. Anni bellte ihm nun schon seit mindestens fünf Minuten ununterbrochen ins Ohr. Sie hatte Hunger, dass wusste er, und doch war er viel zu faul, um aufzustehen.
Als er sich nach endlosen 15 Minuten endlich aufraffte und zum Fenster ging, um etwas frische Luft herein zu lassen, sah er eine Menge Menschen an seinem Bauwagen vorbei laufen. Sie waren vermutlich auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle um die Ecke. So wie sie aussahen, hielten sie sich bestimmt alle für mächtig wichtig in ihrem Job. Sie konnten es nicht erwarten, dort hinzukommen.
Von diesen Leuten hielt er nichts. Sie waren in einer anderen Welt zu Hause. Mit solchen „wichtigen“ Leuten hatte er nichts zu tun, und wollte es auch nicht.

Er lebte eigentlich sehr einsam in seinem grün gestreiften Bauwagen mitten in München. Nur seine geliebte Hündin Anni begleitete ihn immerzu. Die Stadtmitte hatte nicht all zu viele grüne Flecken, sein wildwuchernder Garten war einer davon. Sein knappes Geld verdiente er damit, Kräutersalben zusammenzumixen und diese an nicht sehr zahlreiche Stammkunden zu verkaufen. Oder er bastelte aus allerlei Krimskrams, den er auf der Straße fand, irgendwelche sinnvollen Dinge und verscherbelte sie an einen Trödelhändler. Der bot ihm immer einen guten Preis dafür. Davon hatte er bis jetzt leben können.

Eigentlich liebte er sein Leben, so wie es war. Ohne Termine, ohne Stress, an nichts und niemanden gebunden. Herrlich! Nur ab und zu, ganz selten, wünschte er sich ein anders Leben. Eines, in dem man nicht jeden Tag erneut kämpfen musste, um genug Geld zu haben, um ein Brot kaufen zu können. Außerdem war Hundefutter ziemlich teuer.

An diesem Morgen bastelte er an einem abenteuerlichen Lampenschirm, der aus einem Schwamm bestehen sollte. Doch seine Laune, die sonst beim Herumbasteln immer bestes war, war heute nicht so gut. Der Besitzer des Trödelladens hatte ihm verkündet, dass er schließen würde. „Die Leute sind einfach nicht interessiert an Gebrauchtem. Es gibt so viele günstige Läden mit neuen Dingen – wer brauchte da einen Laden wie diesen?“
Seine Gedanken schwebten nur noch um diesen einen Satz herum, „Wir werden nächste Woche schließen.“ Nun war er auf dem besten Weg, pleite zu gehen. Wie sollte es nun weitergehen auf dem kleinen geerbten Grundstückchen?
Ein Spaziergang sollte ihm die schlechten Gedanken vertreiben. Doch so weit kam er gar nicht. Vor dem quietschenden Gartentor lag ein kleiner Haufen mit Post. Ob das alles für ihn war? Normalerweise schrieb ihm kein Mensch, und die paar Rechungen, auf die er gefasst gewesen war, hatte er doch schon bezahlt. Neugierig wie er war, nahm er den Stapel mit in seinen Bauwagen. Für Ablenkung war nun gesorgt.

Zunächst fand er nur Rechungen, Belege und Werbungsbeilagen. Aber es waren auch drei handgeschriebene Briefe darunter. Einen Brief gab es, in dem sich eine Lisa bei ihren Großeltern für ein Geburtstagsgeschenk bedankte. Der zweite Brief war in einer Sprache geschrieben, die er nicht lesen konnte. Nur der dritte schien etwas interessanter. Da stand etwas von einer Erbschaft. Eine gewisse Melissa Stern sollte von einem Onkel dritten Grades etwas erben. Die Bedingung war, sie musste nächsten Freitag um 14.00 Uhr im Büro des Notars sein. Er war überrascht, solch einen Fund vor seiner Tür gemacht zu haben. Was sollte er nun damit machen? Es war bereits Montag und die Frau hatte womöglich keine Ahnung von ihrem Glück.

Ihm kam die irrwitzige Idee, diese Melissa ausfindig zu machen, sie rechzeitig zum Notar zu bringen und dann einen saftigen Finderlohn zu verlangen. Schließlich war sie ja dann Erbin.
Aber das war gar nicht so einfach wie er es sich vorgestellt hatte. Denn sie war weder im Telefonbuch verzeichnet, noch konnte ihm die Auskunft weiterhelfen. So ein Mist aber auch! Jetzt musste er sich auch noch selbst auf die Suche durch die halbe Stadt machen. Für den Moment war ihm das viel zu anstrengend. Lieber wollte er sich auf die faule Haut legen, essen und in der Sonne dösen.

Aber was tut man nicht alles für ein wenig Geld. Am nächsten Tag, nach einem späten Frühstück, für andere Leute wäre es ein Mittagessen gewesen, machte er sich endlich auf den Weg. Zusammen mit Anni strich er durch die Straßen in der Umgebung. Blumenstraße 15. Es konnte ja nicht weit sein, wenn der unfähige Briefträger diese Post auch noch hätte verteilen sollen. Ein paar Mal fragte er einige Passanten, die ihn dann aber immer in verschiedene Richtungen schickten.

Nur durch Zufall stieß er auf die richtige Kreuzung, bog jedoch noch einmal falsch ab, bevor er einige Zeit später ziemlich genervt vor dem richtigen Haus stand. Obwohl, dieses Gebäude konnte man wohl eher eine Villa nennen. Beeindruckend, wie die weiße Fassade mit dem kleinen Turm an der Seite, hinter der dichten Hecke hervorlugte. Er lief vor das große silbernfarbene Tor und klingelte. Irgendwie fühlte er sich unwohl in seiner Haut. Leute, die in solchen Palästen lebten, waren nicht immer gut auf Besucher wie ihn zu sprechen. Doch bevor er es sich hätte anders überlegen können, kam auch schon eine forsche Stimme aus der Sprechanlage. „Ja bitte?“ „Mein ... mein Name ist Sam Becker. Ich habe einen Brief an eine Melissa Stern. Ist sie zu Hause?“
„Die Madame empfängt heute keinen Besuch. Können sie ihn nicht in den Briefkasten werfen, wie jeder andere auch?“ Klang ja eigentlich nur logisch, aber wenn er das tun würde, käme er nie zu seinem Finderlohn. „Das geht nicht. Es ist sehr persönlich und sehr dringend.“
„Worum geht es denn, wenn es so wichtig ist?“ Die sowieso schon unfreundliche Stimme wurde angespannt. „Es geht um den Tod ihres verstorbenen Onkels!“ Da ging das Tor ohne weiteres auf. Erstaunt über seinen Erfolg trat Sam ein.

Er musste erst quer durch eine kleine Parkanlage, bis er dann in der Eingangstür des Hauses vor einem hageren Mann stand. Vermutlich war es der Mann, der ihm gerade schon eine Abfuhr erteilen wollte. Mürrisch ging er auf die Seite und murmelte etwas von „Treten sie ein.“
Er wurde in einen riesigen Raum geführt, der größer war als sein kompletter Bauwagen. Nach einiger Zeit kam eine hübsche junge Frau herein. Sie war sehr modern und elegant gekleidet. Sam kam sich schäbig vor in seinen alten Jeans und dem ausgeleierten Hemd.
Aber zum Glück war die Besitzerin des riesigen Grundstücks um einiges freundlicher als ihr Dienstbote. Sie stellte sich vor. Mit einer Schauspielerin hatte er es zu tun. Gesehen hatte er sie noch nie. Sie bot ihm eine Tasse Kaffee an und war gespannt, was er ihr zu erzählen hatte.

Sam ließ sich in einen der Sessel fallen und begann. Von unfähigen Briefträgern, sprach er, von seinem Leben im Bauwagen und dem Brief, den er gelesen hatte, weil er nicht hatte widerstehen können. Melissa war fasziniert. Sie saß aufrecht vor ihm, mit leuchtenden Augen, wie ein kleines Kind vor dem Weihnachtsbaum. Natürlich hatte sie volles Verständnis für den Finderlohn. Er hatte es nur kleinlaut angesprochen. Sie bedankte sich und versprach, ihn zu besuchen, wenn sie vom Notar zurück war. Sam zweifelte. Sollte er einer Frau wie Melissa glauben? Konnte man auf ein Versprechen von diesen reichen Leuten vertrauen? Vie Zeit zum überlegen blieb ihm nicht. Die Dame des Hauses hatte noch einen wichtigen Termin, und schneller als er es sich versah, stand er vor der Tür.

Kaum war er jedoch um die Ecke, fing er an zu schimpfen: „Wie konnte ich mich nur auf dieses blöde Versprechen verlassen? Die freut sich doch jetzt nur darüber, dass es so ehrliche Vollidioten wie mich gibt, die ihr zu noch mehr Geld verhelfen.“

Die Woche verlief ohne weitere besondere Vorkommnisse. Sam ärgerte sich, dass er nicht sofort auf seinen Finderlohn bestanden hatte. Er befürchtete, von dieser Frau übers Ohr gehauen worden zu sein. Dass sie tatsächlich am Freitag auftauchen würde, daran glaubte er nicht.

Und er behielt recht. Es erschien niemand. Nicht am Nachmittag und nicht am Abend. Frustriert legte er sich in seine Hängematte und nach einigen Stunden des Löcher-in-die-Luft-Starrens schlief er dann auch ein.

Am nächsten Morgen weckte ihn der Duft von frischem Kaffee. Woher dieser kam ahnte er nicht. Gemütlich wie immer, trottete er in die Küche, um sich eine Kleinigkeit zu essen zu machen. Appetit hatte er inzwischen. Da klopfte es dann der Tür. Als er öffnete, fiel sein Blick auf einen weiteren Bauwagen. Davor stand Melissa und strahlte. „Hier dein Finderlohn! Den habe ich geerbt. Wenn du möchtest, schenke ich ihn dir. Aber nur, wenn ich dich ab und zu besuchen darf.“
Sie reichte ihm eine Tasse frischen Kaffees und zwinkerte ihm zu.