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So süß, wie eine Zuckerwatte

zuletzt bearbeitet am 04.06.2007

Die Musik der Ständchen um mich herum, dröhnte in meinen Ohren. Klassik, Rock, House und HipHop vermischten sich zu einem lauten Stilmischmasch. Die Menschen um mich herum rochen nach Schweiß und drängelten sich mit ihren nörgelnden Kindern an mir vorbei. Von der Masse mitgerissen, kam ich an einen Süßigkeitenstand. Da ich sowieso eine kurze Pause brauchte und die Schlange nicht all zu lang war, stellte ich mich an. Vor mir kaufte gerade ein Junge in meinem Alter eine Zuckerwatte. Hinter mir drängelte ein pubertierender, mit Akne befallener Typ. Ich wich dem Drängler aus und machte einen Schritt nach vorne, um das Gleichgewicht wieder zu finden. In dem Moment drehte sich der Zuckerwattenjunge um. Die Zuckerwatte verfing sich in meinem Haar. War das peinlich. Ich sah wie eine Eisprinzessin aus. Fein wie ein Spinnennetz zog sich die klebrige Süßigkeit durch meine Haare. Um mich herum lachten kleine Kinder, die von ihren Müttern hastig weitergezogen wurden. Wie in Trance gab ich dem verdutzen Jungen eine Ohrfeige. Er wurde rot wie eine Tomate, entschuldigte sich schnell und verschwand im Gewimmel. Ich kämpfte mich durch einen weißen Tränenvorhang, bis ich wieder klar sehen konnte. Als ich auf dem Heimweg war, tat mir der geohrfeigte Junge etwas leid.

Am nächsten Tag in der Schule, kam in der ersten Stunde unser Schulleiter Herr Schlafle in die Klasse. Die Jungs, die vorher noch mit dem Tafellineal Star Wars gespielt hatten, setzten sich brav auf ihre Stühle. Alle schauten betroffen in die Runde. Wer hatte jetzt schon wieder was angestellt? Dicht hinter dem Schulleiter betrat der Junge mit der „Zuckerwattenpanne“ unser Klassenzimmer. Der Tag hatte schon einmal gut angefangen. Als Sahnehäubchen setzte Herr Schlafle den Neuzugang neben mich. Sein Name war Lars. Lars beachtete mich nicht und sprach auch kein Wort mit mir. Er war völlig unsympathisch und arrogant. Ein geborener Streber, der bei den Lehrern gut ankam. Ab dem ersten Moment war er bei mir unten durch. In der Klasse gingen Gerüchte über verschmähte Liebe herum. Doch sie hatten keine Ahnung, was wirklich der Grund für die Feindseligkeit war.

Ich freute mich schon riesig auf die Kennenlerntage, endlich ohne Eltern. Als wir mit dem Bus ankamen, gab es außer einer Telefonzelle und Millionen von Bäumen, die ihre verschrumpelten Äste dem Wind entgegenstrecken, nichts. Absolut nichts, keine Menschenseele weit und breit. Frustriert gingen wir auf das bayerische Haus zu, in dem wir wohnen sollten. Unsere Zimmer rochen nach frischem Holz und waren mit vier Betten und einem Schrank eingerichtet. Nachdem wir unsere Sachen ausgepackt hatten, schauten wir nach den Jungs, die eine Etage weiter unten ihre Zimmer hatten.

Da es schon spät war, machten wir nach dem Essen noch eine Nachtwanderung. Die Schatten der Bäume tanzten im Licht der Taschenlampe auf und ab. Es war richtig gespenstisch. Zurück im Haus legten wir uns hin. Als unsere Lehrerin schlief, schlichen wir barfuß und nur mit Nachthemd bekleidet zu den Jungs. Da uns etwas kalt war, kuschelten wir uns zu ihnen in die Betten. Nur ich stand am Ende mit klappernden Zähnen noch im Raum. Da niemand mit mir seinen warmen Platz teilen wollte, machte ich mich langsam auf den Weg nach oben. Ich hatte noch nicht einmal die ersten Stufen erreicht, da rief mir Lars hinterher, dass bei ihm noch ein Platz frei wäre. Als ich Lars verstohlen anblickte, fiel mir auf, dass er gar nicht so schlecht aussah. Seine mittellangen Haare hingen ihm in das von Sommersprossen übersäte Gesicht. Sein Lächeln passte gut zu seinen hellen Augen. Zusammengekuschelt erzählten wir uns Gruselgeschichten. Irgendwann schliefen wir alle ein.

Wir wurden vom Schrei unserer Lehrerin geweckt. Wie eine Krähe stand sie im Raum und fuchtelte wild herum, als ob sie gerade eine Maus verscheuchen wollte. Wir schlichen mit hängenden Köpfen in unsere Zimmer, duschten und gingen anschließend zum Frühstück. Jeder starrte verlegen auf die Teller, während uns die Lehrerin anschrie. Sie drohte, uns nach Hause zu schicken. Meinte sie das wirklich ernst? Unsicher und mit schlechtem Gewissen gingen wir auf unsere Zimmer. Die gute Laune war hinüber.

Am Nachmittag rief unsere Lehrerin uns alle in den Speisesaal. Alle dachten das Eine: Jetzt müssen wir nach Hause. Doch zu unserer Überraschung entschuldigte sie sich für ihr Benehmen. Sie sagte, dass sie für uns verantwortlich wäre und dass die Eltern auf sie zählen würden, dass nichts passierte. Dazu gehörte auch, dass Mädchen und Jungs in getrennten Betten schlafen müssen. Wir nahmen ihre Entschuldigung an und wussten nun, wieso sie so überreagiert hatte.
Im Anschluss gingen wir auf Entdeckungstour durch den Wald. Wir teilten uns in Gruppen ein und marschierten durch die dicht zugewucherten Wege. Als ich an einem Hang ein Pferd sah, verließ ich die Gruppe in einem unbeobachteten Moment und schlich mich leise an. Weit und breit kein Reiter zu sehen. Beruhigend redete ich auf das scheue Pferd ein. Aus den Baumwipfeln flog ein Vogel heran und das Pferd erschrak so, das es sich aufbäumte. Ein harter Schlag traf mich am Bein und um mich herum wurde alles schwarz. Ein nasser Kuss brachte mich wieder zu Bewußtsein. Als ich die Augen aufschlug, schauten mich zwei große braune Augen an. Das Pferd blähte die Nüstern und stupste mich leicht an. Mein erster Versuch aufzustehen scheiterte, denn meine Beine pochten wie wild. Langsam schob ich die Hose hoch und verzog das Gesicht schmerzerfüllt. Mein Knie war dick angeschwollen. Zudem hatte ich meine Gruppe verloren und wusste nicht, wo ich war. Ich holte mein Handy aus der Seitentasche meiner Jacke, aber ich hatte keinen Empfang. Mit lauter Stimme schrie ich um Hilfe. Entmutigt ließ ich den Kopf hängen und schaute dem Pferd beim Fressen zu.

Hinter mir raschelte es und Lars kam völlig außer Atem neben mir zum Stehen. Nach Luft schnappend fiel er mir um den Hals. „Endlich habe ich dich gefunden. Ich habe dich überall gesucht.“ Ich hätte Luftsprünge machen können. Er versuchte, mich hochzuheben und zu tragen, musste mich jedoch schon nach wenigen Metern absetzen. Da hatte ich eine Idee. Ich lockte das Pferd mit ruhigen Worten an. Als es neben mir zum Stehen kam, stupste es mich an und stand ganz entspannt neben mir. Ich gab Lars mein angewinkeltes Bein und er gab mir ein Schwung. Sanft kam ich im Sattel an. Lars fand das etwas zu gefährlich, doch mein Wille, endlich ins Bett zu gehen und das Bein hoch zu legen, war stärker.

Es war schon ziemlich spät, als wir im Hof des Hauses ankamen. Aufgeregt kam unsere Lehrerin angerannt. Ich ließ mich in ihre Arme fallen. Überglücklich weinte ich ein bisschen. Meine und Lars Eltern hatte sie schon benachrichtigt, und nach ein paar Telefonaten unserer Wirtin hatte sie auch den Namen des Besitzers des Pferdes herausbekommen. Ich wurde auf eine Bank gelegt und eine Traube aufgeregter Klassenkameradinnen und -kameraden versperrte mir die Sicht. So bekam ich erst spät mit, dass der Pferdebesitzer sein Pferd behutsam in einen Anhänger führte. „Stopp“, schrie ich, bevor er losfahren konnte. Lars verstand und bot mir seine Schulter, um mich abzustützen. Langsam brachte er mich zu dem Anhänger und ich strich dem Pferd behutsam über die Nüstern. Der Besitzer stieg aus. „Du bist also das Mädchen, das mein Pferd gefunden hat“, meinte er grinsend. „Ja“, antwortete. Er bot mir an, „Touch“, so der Name des Pferdes, in den nächsten Ferien besuchen zu kommen. Begeistert willigte ich ein. Er gab mir seine Telefonnummer und fuhr davon. Wenige Minuten später kam meine Mutter die Auffahrt hochgefahren. Ich gab Lars einen schnellen Kuss auf die Backe und hauchte ein „Danke“ in sein Ohr, bevor mich meine Mutter erreichte und mich fast erdrückte. Schnell waren meine Sachen gepackt. Lars bestand darauf mitzukommen, und so nahmen wir ihn mit. Er besuchte mich jeden Tag, bis mein Bein verheilt war und ich wieder in die Schule gehen konnte. Seit dem Tag sind wir ein unschlagbares Team und Paar.